Interview geführt für die Website “Amal, Berlin”: Amloud Al-Amir
In einem Gespräch, das von Mut und Klarheit geprägt ist, sprechen wir mit dem in Deutschland lebenden syrischen Autor und Journalisten Ibrahim AlJabin, der für seine tiefgründige kritische Herangehensweise an die syrische Realität bekannt ist und dessen Sichtweise zwischen persönlicher Erfahrung und politischem Kontext liegt. In diesem Interview spricht Al-Jabin über Syrien nach Assad, über die Herausforderungen, denen sich die neue Regierung gegenübersieht, und über die Bereitschaft von Gesellschaft und Macht, eine neue politische und verfassungsrechtliche Erfahrung einzugehen. Seine Antworten sind nicht frei von warnendem und realistischem Ton, enthalten aber auch Hoffnung und das Verantwortungsgefühl eines Intellektuellen, der seine Rolle nicht aufgibt – trotz Diffamierungskampagnen und Druck.
– Wie bewerten Sie die aktuelle politische Lage in Syrien und welche Hauptprobleme stehen dem Land bevor?
Die politische Situation in Syrien befindet sich derzeit im Wandel, und der Veränderungsprozess ist noch nicht abgeschlossen. Der Sturz von Bashar al-Assad bedeutete nicht das Ende, sondern den Beginn einer neuen Phase, die sich im Wesentlichen darauf stützt, wie die neue syrische Verwaltung sich selbst und ihr Projekt zum Ausdruck bringt. Es reicht nicht, die wirtschaftlichen Aspekte und die neue regionale Rolle zu betonen – vielmehr muss die Haltung der neuen Macht zu politischen Fragen, Demokratie und Freiheiten klar werden. Diese Herausforderungen wurden bisher nicht getestet.
Doch die Verantwortung liegt nicht allein bei der neuen Regierung. Auch die syrische Gesellschaft muss ihre neue Rolle entdecken und definieren. Die Herausforderungen im Inland sind gewaltig – von den Grundbedürfnissen bis zur Schaffung eines neuen Gesellschaftsvertrags, der das Erbe des Despotismus überwindet. Die größte Herausforderung ist derzeit, dass die neue Regierung Syriens neue geopolitische Stellung erkennt – insbesondere nach dem Rückzug des iranischen Einflusses infolge des israelischen Angriffs, der nicht nur das Atomprogramm, sondern das gesamte Konzept des “Velayat-e-Faqih”-Staates ins Visier nahm. Aus dieser neuen Realität sollte vor allem eines hervorgehen: die Stärkung der „Achse Damaskus“, die den Golf im Süden mit Ankara im Norden verbindet – und keinesfalls ein Nachbau des Khamenei-Regimes in Syrien.
– Welche Auswirkungen haben die Ereignisse an der Küste auf das Verhältnis der Minderheiten zur neuen Regierung? Wie beurteilen Sie die Reaktion der Regierung?
Meiner Meinung nach stellten die Ereignisse an der Küste eine wichtige Bewährungsprobe für die Regierung unter Präsident Ahmad Al-Shar’ dar. Einerseits war sie mit ihrer früheren Rhetorik konfrontiert, andererseits mit ihrer Verantwortung als Staat für alle Bürger – auch für jene, die in die Verbrechen des Assad-Regimes verwickelt waren. Die Regierung muss faire Prozesse garantieren, sofern sich die Vorwürfe bestätigen. Die Ereignisse, die mit einem Aufstand von Assad-treuen Gruppen begannen und sich zu verurteilenswerten konfessionellen Verbrechen und Racheakten gegen Zivilisten entwickelten, zeigten das Unvermögen der Regierung, umfassend – also auch sozial, juristisch und administrativ – Kontrolle auszuüben. Die Regierung sollte daraus lernen, dass ihre Aufgabe nicht auf Sicherheit beschränkt ist – das Fehlen politischer und rechtlicher Maßnahmen öffnet Tür und Tor für wechselseitige Hetzkampagnen.
– Welche Hetzkampagnen sind in Syrien am weitesten verbreitet?
Solche Kampagnen zielen meist auf die Schwachstellen in einer Gesellschaft – in Syrien sind das insbesondere der Konfessionalismus und Rassismus.
– Welche Rolle spielt die Medienlandschaft bei der Meinungsbildung in Syrien? Hatte sie Einfluss auf die Politik? Wie wichtig ist freie Presse und wie kann man sie schützen?
Die Medien spielen eine entscheidende Rolle – sie haben die größte Wirkung, wenn sie in die richtige Richtung und mit freiem Willen eingesetzt werden: zur Meinungsbildung, zur Gestaltung von Ereignissen und nicht bloß als Spiegel der Realität. Freie Presse ist für mich ein Maßstab für den Fortschritt einer Gesellschaft. Sie kann helfen, gesellschaftliche Probleme zu lösen – oder auch bewusst Konflikte erzeugen, die konstruktiv und notwendig sein können, um Veränderungen herbeizuführen. Sie ist zugleich ein Schutzschild für die Menschen.
– Wie sehen Sie die Rolle des Autors und Journalisten inmitten politischer und sozialer Krisen?
Nur wenige Autoren und Journalisten sind in Krisenzeiten bereit, die Konsequenzen ihrer Positionen zu tragen – etwa durch Diffamierungen oder Boykotte durch die Behörden.
– Wie kann man Hetzkampagnen im Kontext von Kriegen und Konflikten begegnen? Haben Sie persönliche Erfahrungen damit? Wie sind Sie damit umgegangen, und hatten sie Auswirkungen auf Sie?
Während meiner Arbeit im kulturellen und medialen Bereich habe ich zahlreiche Einschüchterungskampagnen erlebt – viele davon ohne nachvollziehbaren Grund, außer dem Versuch, meinen beruflichen Weg zu sabotieren, etwa durch Angriffe auf mein Privatleben und meine Familie, selbst auf meine Kinder.
Einige Kampagnen hatten den Charakter von Strafmaßnahmen, etwa als ich jahrelang islamistische Bewegungen wie Al-Qaida oder den IS analysiert und kritisiert habe – damals erhielt ich Todesdrohungen per E-Mail und soziale Medien. Ich wurde als Agent des Westens oder der Minderheiten gebrandmarkt.
Später, als ich während der Revolution die Idee der Minderheitenschutzes kritisierte, wurde ich als sunnitisch-salafistischer Dschihadist verleumdet. Als ich Projekte vorschlug zur Entwicklung eines föderalen geografischen Systems innerhalb eines politisch zentralisierten, aber administrativ dezentralen Staates, wurde ich beschuldigt, pro-kurdisch zu sein. Und als ich die Verbrechen der SDF aufdeckte und ein demokratisches arabisches Bündnis forderte, wurde ich von kurdischen Nationalisten rassistisch angegriffen – sie nannten mich Baathist oder IS-Anhänger und drohten mir täglich, sogar von Personen mit Wohnsitz in Deutschland. Dabei vergaßen sie, dass solche Drohungen hier strafrechtlich verfolgt werden.
Diese Kampagnen reißen nie ab – nach den SDF-Anhängern kamen die der Drusenführung (Al-Hijri), die mich als takfiristischen Feind der Drusen beschimpften. Einige warfen mir sogar vor, ich hätte Ibn Taymiyyahs Werke studiert – ein Beweis für meine „takfiristische Gesinnung“.
Und als ich Präsident Shar’ eine Woche nach dem Sturz von Assad aufforderte, auf Selfies mit TikTokern zu verzichten und stattdessen ein verfassungsrechtliches Dokument vorzulegen, wurde ich von seinen fanatischen Anhängern heftig beleidigt und verhöhnt.
– Wie beurteilen Sie die europäische Haltung gegenüber der neuen syrischen Regierung, besonders im Hinblick auf neue Asyl- und Familiennachzugsregelungen?
Ich halte es für verfrüht, dass europäische Staaten Druck auf Flüchtlinge ausüben – vor allem, da sich die Lebensbedingungen in Syrien bislang kaum verbessert haben.
– Wie beeinflussen die aktuellen Entwicklungen in Syrien den zivilen Frieden?
Ziviler Frieden entsteht durch Übergangsjustiz und Rechenschaft, nicht durch Umgehungen, Verzögerungen verfassungsrechtlicher Regelungen oder Deals mit Kriegsverbrechern.
– Gibt es Hoffnung auf dauerhafte Stabilität in Syrien?
Ich würde nicht sagen, es gibt Hoffnung – ich bin überzeugt, dass sie kommen wird. Sie ist notwendig – aus gesellschaftlichen, sicherheitspolitischen und regionalen Gründen.